Chodowieckistraße 22

Ein Kunstkritiker erinnert sich …

Wolfgang Kil

Wolfgang Kil hatte geschrieben:

Kleines Vorspiel

In keinem Geschichtsbuch wird es je auftauchen, aber in der Nacht von 2. zum 3.Oktober, als durch den Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes die vergrößerte Bundesrepublik entstand, erblickte in einem trotzigen Akt der Sezession, noch ein anderer, klitzekleiner Staat das (Scheinwerfer-)Licht der Welt: Die Republik Utopia.

Während unter den Kamerablicken der ganzen Welt die Gewinner des Vereinigungswettlaufs sich zur Siegerehrung – mit Fahnenhissen und Hymnenklang – auf der Treppe des wilhelminischen Reichstags zusammenfanden, da klapperte, rasselte und toste über den fünf Kilometer entfernten Kollwitzplatz – unter den argwöhnischen Blicken eines mittleren Polizeiaufgebots – die Selbstbehauptungsfeier eines bunten Völkchens.

Dem hatten die  rabiaten Bekundungen vom „Einig Vaterland“ aus den Monaten zuvor so sehr verdächtig geklungen, daß es nun, wenig Gutes ahnend, sich untereinander Mut zu machen suchte. …

Um Mitternacht wurde es protokollarisch. Vor dem bezeichneten Lieferwagen sammelten sich die ersten, um auf die Ausgabe der neuen Utopia-Pässe zu warten. Ein Pianist intonierte noch einmal die Hymne  des verschwindenden Staats, dann sank auch dessen emblemgeschmückte Flagge vom Mast. Und Schlag zwölf stieg über den Köpfen der plötzlich ganz still gewordenen Menge die Fahne der Republik Utopia empor. Die hatte in ihrer Mitte ein kreisrundes Loch. Und sie war ganz weiß. …

Nachspiel

Aus dem Zettelkasten: „Die erste Grundstücksauktion in Ost-Berlin am 12. Dezember 1990 sollte um 18 Uhr beginnen. Doch der Saal war bereits eine halbe Stunde zuvor hoffnungslos überfüllt. Es kamen nicht nur die potenziellen Käuferinnen und Käufer aus West-Berlin oder West-Deutschland, sondern auch die Mieterinnen und Mieter des Grundstücks Kollwitzstraße 52, das an diesem Abend versteigert werden sollte. Mit ihnen kamen rund 50 Sympathisantinnen und Sympathisanten.“* Wie es weiterging, kann man sich vorstellen (und es kam auch im Fernsehen): polizeiliche Räumung, Handgemenge bis hinaus auf die Straße, im Saal Stinkbomben als bleibendes Andenken. Mit zweistündiger Verspätung fiel dann der Hammer – zwei junge Hamburger erhielten den Zuschlag. Am Tag darauf beschwichtigten diese die Interviewer, sie hätten mit dem Kauf nur „den sympathischen Leuten da“ (und natürlich sich selber) einen Gefallen tun wollen. Und das Geld müßten sie überhaupt erst noch auftreiben.

Selbst wenn sie es nicht auftreiben und der ganze Rummel um den Hauskauf nur Gag oder Finte war: das Signal ist gegeben, die Meßlatte gesetzt. Der Hammer fiel bei 1,05 Millionen. Das spricht sich rum.

Ach ja, vielleicht noch dies: das Haus Kollwitzstraße 52 steht nur einen Steinwurf weit entfernt von dem Platz, auf dem neun Wochen zuvor, in der Nacht vom 2. zum 3. Oktober 1990, über einer Bühne die Fahne der Republik Utopia entrollt worden war. Die weiße Fahne …

W.K. had written:
Small Prologue
about the defiant act of founding a „Republic Utopia“ in the night towards October 3rd 1989 when was executed the Accession of the GDR to the scope of the Basic Law of the FRD …

Repercussion
about the first property auction in East Berlin including a melee with the tenants of the property Kollwitzstraße 52: „the signal is given, the measuring rod is set. The hammer fell at 1.05 million. Word gets around.“ – walking distance to the place where nine weeks before the flag for „Republic Utopia“ has been unrolled …

aus: Wolfgang Kil, Prenzlauer Berg – Aufstieg und Fall einer Nische, in: Die Stadt als Gabentisch, Reclam-Verlag Leipzig 1992, S.509 und 520
Quelle: W.Kil

Bleiberecht zum Höchstgebot?
Am Anfang war der Leerstand. Vor geschlossenen Fabriken, aufgelassenen Militärarealen oder zugenagelten Bahnhöfen konnte man noch tapfer die Augen verschließen. Ein jahrelang verrammeltes Kaufhaus oder das einst glamouröse, heute verrottende Premierenkino im Herzen der Innenstadt waren schon schwerer zu ignorieren. Eine Million leere Wohnungen in Ostdeutschland endlich gaben Anlass für Alarm: Technologischer plus demografischer Wandel zwingen die Gesellschaft, sich neu zu sortieren. Auch Disparitäten verteilen sich neu: Städte schrumpfen, Regionen entleeren sich. Für davon betroffene Wohnungsunternehmen ging es ums blanke Überleben.

Quelle: Wolfgang Kil