Majakowskiring 46/48

Hier war das Klubhaus der Schriftsteller Berlins.
Eine erinnert sich …

Daniela Dahn

Daniela Dahn schreibt am 12.3.2019:

Wo standen Sie im Herbst 1989 – politisch, beruflich, persönlich?
Was haben Sie in diesem Monat getan
und welche Vorstellungen und Hoffnungen hatten Sie?

Der 9. Oktober 1989 war mein 40. Geburtstag. Halbzeit, sozusagen. Es waren allerhand Gäste gekommen. Doch die Stimmung war angespannt, an diesem Abend fand in Leipzig die größte Montagdemo statt und es gab Gerüchte, dass in den Nebenstraßen nahe des Rings Panzer aufgefahren seien. Wir sprachen über unsere Ängste und Hoffnungen. Zwei Tage zuvor sollte es bei den Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag in Berlin Festnahmen gegeben haben – Genaueres wussten wir noch nicht. Gegen 22 Uhr kam ein Anruf eines Leipziger Freundes – alles sei gewaltfrei und friedlich abgelaufen. Wir jubelten, die Erleichterung war groß. Von da an wurde die Party ausgelassen.
Ich gehörte nicht zu den Hellsichtigen, die von Anfang an genau wussten, was jetzt zu tun und zu wünschen war. Ich wollte immer in einer Demokratie leben, aber nie im Kapitalismus. Entsprechend gemischt waren meine Gefühle. Endlich im eigenen kleinen Land gehört zu werden und mitreden zu können, war immerhin eine beinahe rauschhafte Erfahrung. Alles schien im Umbruch, alles möglich. Mitte September wurde im Schriftstellerverband mit großer Mehrheit eine Resolution verabschiedet, die ich zuvor in einer kleinen Gruppe von Autorinnen um Christa Wolf angeregt und mitformuliert hatte: Wir forderten einen sofortigen öffentlichen Dialog über die sich zuspitzenden Probleme in der DDR. Das war die erste derartige Resolution in diesem Herbst des Aufbruchs, der viele ähnliche folgten. Der Dialog war in Gang gekommen, allerdings noch nicht öffentlich.
Am 26. September forderten die Künstler des Deutschen Theaters in einem Offenen Brief an Ministerpräsidenten Stoph (ganz was Neues), unsere Resolution im ND zu veröffentlichen. Am 3. Oktober schloss sich dem das Gorki-Theater an: „Diese Resolution ist drei Wochen alt. Ein demokratischer Dialog hat immer noch nicht stattgefunden, obwohl sich die Situation täglich verschärft.“
Es war die politisch intensivste Zeit meines Lebens – das ging mir nicht anders als vielen bewegten Bürgern damals. Am 1. Oktober nahm ich, teils folgerichtig wegen der Resolution, teils zufällig, da solche Termine noch konspirativ weiter gegeben wurden, an der Gründungsversammlung des Demokratischen Aufbruchs teil. Ein Thema für sich. Mehrfach traf ich mich danach mit einigen Kollegen im Klubhaus des Schriftstellerverbandes am Pankower Majakowskiring um zu beraten, wie ein neues Pressegesetz aussehen müsste. Jetzt musste man an die Gesetzgebung ran – so viel war klar. Ich hatte vor acht Jahren meine Stelle als Fernsehjournalistin gekündigt und war und bin seither sogenannte freie Autorin. Die einseitigen und bevormundenden Medien waren für mich das Unerträglichste an der DDR. (Erst später begriff ich, dass für die meisten meiner Landsleute nicht die Meinungsfreiheit oberstes Ziel war, sondern die Konsum-Freiheit.)
Durch mein Buch „Prenzlauer Berg-Tour“ hatte ich in diesem Stadtbezirk viele Kontakte und erinnere mich an heftige Diskussionen, etwa im Franz-Club in der Kulturbrauerei. Inzwischen hatten sich, mit Hilfe von Leuten aus der Gethsemane-Kirche, Gedächtnisprotokolle herumgesprochen. Hunderte friedliche Demonstranten, meist junge Leute aus dem Prenzlauer Berg, wurden für ein, zwei Tage inhaftiert, schikaniert und misshandelt. Das trieb die Empörung auf die Spitze. Am 28. Oktober fand in der Erlöserkirche eine Protestveranstaltung der Berliner Künstler statt, „Wider den Schlaf der Vernunft“, die mein Kollege Jürgen Rennert und ich moderierten. Daher erinnere ich mich ziemlich gut und habe auch noch die Liste der etwa 70 mitwirkenden Künstler. Nie zuvor und nie danach war die gesamte Kunstprominenz auf einer Bühne. Alle drückten auf sehr persönliche Art ihre Solidarität mit den Opfern staatlichen Machtmissbrauchs aus.
Maler und Grafiker zeigten ihre Bilder zu Musikeinlagen von Ruth Zechlin, Jalda Rebling, Georg Katzer, Lakomy, Friedrich Schenker, Wenzel/Mensching, Jochen Kowalski, Friedrich Goldmann, Günther Fischer, Siefried Matthus und vielen mehr. Auch Autoren hatten Auslandsreisen abgebrochen und Termine verschoben, um dabei zu sein: Stefan Heym, Christa Wolf, Stephan Hermlin, Volker Braun, Helga Königsdorf, Christoph Hein, Rosemarie Schuder, Wolfgang Kohlhaase. Heiner Müller kam etwas später, mein Mann, Joochen Laabs, musste gleich nach seinem Statement zum Flugplatz. Die Veranstaltung ging über fünf Stunden und Tausende, die in der Kirche keinen Platz mehr gefunden hatten, verharrten bis in die Morgenstunden vor den Lautsprechern, aus denen das Ganze nach draußen übertragen wurde. Dabei war es bitter kalt.
Am nächsten Tag veröffentlichte das ND einen ausführlichen, wohlwollenden Bericht. Und versäumte auch nicht, die zentrale Forderung des Abends zu erwähnen: eine unabhängige Untersuchungskommission als Schule der Demokratie. Zwei Tage später wurde die erste Unabhängige Untersuchungskommission der DDR beschlossen und mehrere Teilnehmer des Abends, darunter Christa Wolf, Christoph Hein, Jürgen Rennert und ich, gehörten zu den Delegierten. Die Ereignisse hatten eine nie gekannte Dynamik gewonnen.
Am 29. Oktober fand die konstituierende Versammlung des Demokratischen Aufbruchs statt – in Ermangelung anderer Räumlichkeiten ironischer Weise in der Kantine des Königin-Elisabeth-Krankenhauses Herzberge. Mir kam die Aufgabe zu, den Aufruf zu kommentieren, was ich dazu nutzte, mehr Sachkompetenz in Wirtschaftsfragen einzufordern.
Als sich sechs Tage später auf dem Alexanderplatz fast eine Million Menschen zu der legendären Demo versammelten, übertrug das DDR-Fernsehen schon live. Die Zuschauer hatten so Anteil am unerschrockenen Witz der Losungen und Plakate. Manche Anspielung verstehen heute nur noch Insider: Wir tapezieren mit Rauhfaser! Glasnost – nicht Süßmost. Zensoren ab auf die Traktoren! Stasi in die Produktion, für normalen Durchschnittslohn. Surffreiheit für die Ostseeküste. Oben Krenz – unten brennt´s! Wir wollen nicht andere Herren – wir wollen keine. Nieder mit dem Schweizer Bankgeheimnis! Es geht nicht um Bananen – es geht um die Wurst. So wie wir heute demonstrieren, werden wir morgen leben. Stell dir vor es ist Sozialismus und keiner geht weg.

Welche Wünsche und Hoffnungen hatten Sie
für die Zukunft des ostdeutschen Landes,
was wäre für einen Aufbruch heute sinnvoll?

Mit der Öffnung der Mauer verlor die bürgerrechtliche Opposition sofort an Einfluss. Die DDR als eine Alternative zu reformieren, geriet immer mehr zur Illusion. Obwohl der Runde Tisch gefordert hatte, westliche Politiker mögen sich aus dem Wahlkampf in der DDR heraushalten, waren sie sofort alle vor Ort. Und brachten ihre Lösungen mit. Und ihre Medien und Berater, die zu verhindern wussten, dass der Demokratisierungsdruck aus dem Osten auch den Westen ergreift.
Konkretes Beispiel: Innerhalb unserer Untersuchungskommission gab es eine kleine Arbeitsgruppe, die an einem neuen Polizeigesetz arbeitete. Wir wollten verhindern, dass weiterhin versucht werden könnte, politische Probleme mit polizeilichen Mitteln zu lösen. Dazu schlugen wir u.a. einen demokratisch gewählten, hauptamtlichen Bürgerbeauftragten vor, der in öffentlichen Sprechstunden Beschwerden von Bürgern entgegennimmt und sie berät. Er hätte die Kompetenz, Untersuchungen gegen Polizeimaßnahmen einzuleiten. Ein solcher Beauftragter wäre auch heute, etwa bei den G20 Protesten, eine wichtige Vermittlungsinstanz. Stattdessen werden wir ständig mit verschärften Polizeigesetzen konfrontiert, die z.B. durch ihren schwammigen Terrorismusbegriff Aktivisten aller Art gefährden.
Aber dieser Gesetzesentwurf hatte genauso wenig eine Chance beachtet zu werden, wie der im Auftrag des Runden Tisches von Ost- und Westjuristen erarbeitete Verfassungsentwurf. Dieser stützte sich weitgehend auf das Grundgesetz, war aber in wichtigen Bereichen moderner: ökologischer, feministischer, gemeinwohlorientierter, basisdemokratischer. Weder die neu gewählte Volkskammer, noch der Bundestag machten sich die Mühe, ihn mit Argumenten abzulehnen – er wurde einfach ignoriert. Wie so vieles andere, was die Bürgerbewegungen eingebracht hatten. Stattdessen wurde von Medien und Politikern eine Bankrott-Situation heraufbeschworen, die im Verbund mit Dämonisierungen aller Art für die Mehrheit in der DDR als einzigen Ausweg den schnellen Anschluss an die Bundesrepublik zu deren Konditionen plausibel machte.
Die Folgen von überstürzter Währungsunion, Treuhandpolitik, dem Prinzip Rückgabe vor Entschädigung und flächendeckender Abwicklung der DDR-Eliten sind bekannt. Unbestritten hat sich der Lebensstandard für die meisten erheblich verbessert, wozu neben fragwürdigem Konsum auch wichtige Dinge wie gesündere Ernährung, schöneres Wohnen, die Freiheit des Reisens und sich Informierens gehören. Dennoch sind die anhaltende wirtschaftliche Schwäche im Osten, das Gefühl, selbst immer noch nichts zu sagen zu haben, der Frust über sozialen Druck und die sich daraus gefährlich steigernde Affinität zu rechtsextremistischem Denken und Handeln, deutliche Folgen der verfehlten Vereinigungspolitik.
Ich habe nicht die Einheit an sich, sondern die Praxis dieser Einheit mit mehreren kritischen Büchern begleitet. 2005 trug eins davon den Titel: „Demokratischer Abbruch – Von Trümmern und Tabus“. Langsam beginnt eine noch zögerliche Diskussion über diese Trümmer und Tabus. Es wäre wünschenswert, wenn die noch korrigierbaren Fehler bald in Angriff genommen würden. Denn die deutsch-deutsche Nabelschau sollte ein Ende finden. Längst sind wir gemeinsam betroffen vom Zustand der Repräsentativen Demokratie, vom möglichen Scheitern der Europäischen Union, von den Zuständen in aller Welt, die Menschen in die Flucht treiben und Kriege nicht ausschließen. Diese Fragen sind zu existentiell, als dass man sie den Politikern überlassen könnte. Immer noch habe ich die Hoffnung auf eine Selbstermächtigung aufgeklärter Bürger nicht ganz aufgegeben.

Zwei Buchtitel von D. Dahn,
li: Prenzauer Berg-Tour, 1987; Neuauflage 2001 Rowohlt Verlag
re: Der Schnee von gestern ist die Sintflut von heute, 2019 Rowohlt Verlag
Quelle: K.S.
www.danieladahn.de